Nach der schweißtreibenden Nacht mit Vinnie war ich Reif für eine Auszeit. Und die nahm ich mir auch. Zusammen mit Katharina und Tinka, zwei Studentinnen aus Kassel, verbrachte ich das Wochenende an den Stränden des Tayrona-Nationalparks. Nach nur einer Stunde mit dem Bus war der Parkeingang erreicht. Bis zum Strand musste man eine weitere Stunde lang Wandern. Der Weg schlängelte sich durch einen dichten Dschungel. In den Bäumen beobachteten wir Affen beim Verspeisen ihres Abendmahls. Fast minütlich kamen uns Touristen entgegen. Ohne Zweifel gehört Tayrona zu Kolumbiens populärsten Reisezielen. Verständlich, denn in Tayrona erwartet den Reisenden ein Paradies. Die Bilderbuchstrände sind gesäumt von Kokospalmen und am Himmel schweben Pelikane. Das Wasser ist hellblau und kristallklar. Stunden kann man allein damit verbringen in perfekte Wellen zu springen – oder einfach nur das Ambiente am Strand zu genießen.
Katharina und Tinka haben mir meinen Aufenthalt im Paradies außerordentlich versüßt. Geistreich, pfiffig und witzig, wie sie waren, hatten sie zu allem etwas zu sagen. Nie schienen ihnen die Geschichten auszugehen. Mit ihren 24 Jahren hat Tinka schon die halbe Welt gesehen, gezählte ganze 29 Länder! Und der MDR täte sich einen Gefallen daran, Kathi für seine Programmplanung zu engagieren… Auch beim Gepäck machten mir die Mädels etwas vor. Jede mit nur einem kleinen Beutelchen bewaffnet, waren sie genug gerüstet für ganze drei Tage. Und so entspannt und relaxed, wie die Beiden waren, hätte man meinen können, sie wären bereits seit 4 Monaten im Urlaub und nicht ich. Kurz um, in ihrer Gesellschaft habe ich mich pudelwohl gefühlt. Danke Kathi, Danke Tinka! Es war ein traumhaftes, wunderbares Wochenende mit Euch beiden! Ich werde es nicht vergessen!
Na? Wer erkennt den jungen Mann hier links oben im Bild? Ja, unglaublich aber wahr – es ist Vinnie Graves, mein Roommate aus der Antarktis! Als ich gerade meinen letzten Tagebucheintrag online gestellt hatte und zum Sonnenuntergang am Strand spazieren wollte, da stand er plötzlich vor mir. Erst sah ich ihn nur von hinten und rief: „Vinnie, is it you?“. Er drehte sich um und jetzt war ich mir sicher: Es war Vinnie, der US-Amerikaner, mit dem ich 2 Wochen lang den schönsten Trip meines Lebens genossen hatte. Mit einer Umarmung hatten wir uns am 18. November 2009 in Ushuaia, an der Südspitze Argentiniens, verabschiedet. Und heute, ziemlich genau 3 Monate später, treffen wir uns an der Nordspitze des Südamerikanischen Kontinents wieder. Was für ein riesen Zufall! Dabei wohnte Vinnie nicht einmal in meinem Hotel! Er hatte 2 Straßen weiter eingecheckt und war nur vorbeigekommen, um das berühmt berüchtigte Backpackers zu besichtigen, in dem auch ich nur zufällig untergekommen war. Während ich in den vergangenen 90 Tagen die Westküste hinauf gereist war, hatte sich Vinnie an der Ostküste durch Brasilien und an der Nordküste durch Venezuela geschlagen. Und genau hier in Santa Marta/ Kolumbien waren wir wieder aufeinander getroffen – und das 3 Tage vor Vinnies Rückreise in die USA. Sein Trip war zu Ende und ebenso wie ich, hatte er viel zu erzählen. Eine lange Nacht stand uns also bevor.
Und diese wurde länger, als ich mir das je ausgemalt hätte. Eins der Delikte, weswegen wir am Strand verhaftet wurden, war „das Nichttragen eines Passes“. Klar hat man so ein Ding (oder zumindest eine Kopie davon) immer dabei. An diesem Abend aber hatte ich es eben nicht. „Handschellen klicken und ab ins Gefängnis schicken“ war angesagt. Die Polizisten wirkten absolut seriös. Peinlichst genau nahmen sie ein Protokoll auf. Ich war mir sicher, zumindest die nächsten Tage im kolumbianischen Knast zu verbringen. Doch dann passierte etwas merkwürdiges. Einer der Polizist begleitete uns zum Hostel. Und: er wartete nicht direkt vor der Hosteltür, sondern auf dem Marktplatz, halb schräg davor. Ich holte meinen Pass – und natürlich Geld. Nachdem ich wieder auf der Straße erschienen war, traten wir einen langen Marsch durch die Seitenstraßen Santa Martas an. In einer ziemlich dunklen Gasse blieben wir unter einer Laterne stehen. Ob ich die Gesetze seines Landes nicht respektieren würde, fing der Polizist an mich zu verhören. „No! Si! Claro!“, stammelte ich. Dann wollte er wissen, wie das denn in einer solchen Situation jetzt in Deutschland wäre? Und ob ich denn verstehen würde, dass sie uns jetzt mit aufs Revier nehmen müssten. „Si! Claro!“, pflichtete ich ihm bei. Meine Hoffnung sank ins bodenlose. Plötzlich sah ich mich für einen langen Moment ein dickes Buch schreiben: „Meine Lebensjahre im kolumbianischen Knast“. Doch auf einmal schwenkte der Polizist um, er könnte uns helfen, meinte er jetzt. Ich dachte ich hätte mich verhört, doch auch Vinnie schaute mich verdutzt an. Das war also der Moment, wo man das Geld raus holen musste, dachte ich mir und streckte dem Mann in straffer, grüner Uniform alles hin, was ich an Banknoten hatte. „100 US-Dollar kostet der Strafzettel, gab er zurück und zählte nach. Dann gab er mir 26 Dollar wieder. Jetzt wurde Vinnie wach und fragte, ob er denn nicht auch das Protokoll und den Strafzettel zerreißen könnte, so das nichts von dieser unangenehmen Geschichte übrig bliebe… „Claro! Gab der Polizist zurück und zerschnippselte im Handumdrehen seine wertvollen Notizen. Was für eine schräge Nummer dachte ich mir auf dem Rückweg. 100 Dollar kostet es also. Und eine Kolumbienreise ist kein echtes Abenteuer, wenn man nicht wenigstens einmal verhaftet wird. Ich lächelte wieder und dennoch: der Schock saß tief…
Seit meiner Abreise aus Ushuaia habe ich 7400 km Luftline auf dem Landweg zurückgelegt. Und heute ist meine Haut zum ersten Mal ins karibische Meerwasser eingetaucht.
Der Landesname Kolumbien leitet sich vom Entdecker Christoph Kolumbus ab. Das Stückchen Stadtstrand, dass mich heute beglückte, habe ich stolzerweise nach mir benannt…
Man soll den Tag zwar nicht vor dem Abend verdammen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich hier wohl nicht lange bleiben werde. Das angenehme, bunte Städtchen wimmelt leider nur so von Amerikanern der unsympathischen Art. Besonders die Backpacker in meinem Hostel gehen mir mächtig auf die Ketten. Ihnen scheinen die ignoranten US-amerikanischen Eigentümer ein Vorbild zu sein. Folgende Episode spricht schon Bände: Vor dem Haus reihte sich heute eine Schlange Kolumbianer auf, die den Eindruck machten, als warteten sie auf den Eintritt zu einem großen Fußballspiel. Als ich die Eigentümer nach dem Grund der Ansammlung fragte, antwortete man mir nur knapp, dass täten DIE öfters so, warum wisse man nicht. Als ich mich bei einem Kolumbianer erkundigte, erfuhr ich, dass die Menschen durch die FARC geschädigt worden seien oder vom Staat enteignet wurden und nun auf eine Entschädigung warteten…
„Landverlust“ bzw. „Landstreitigkeit“ scheint in Kolumbien generell ein Thema zu sein. So habe ich bereits Schweigemärsche und Flüchtlings-Camps in der Nähe von Popayan und Cali beobachten können. Wie ich auf Anfrage erfuhr, enteignet der Staat (aus verschiedenen Gründen) die Anwohner, stellt ihnen aber keinen bzw. keinen adäquaten Landbesitz anderen Ortes zur Verfügung.
Auf der anderen Seite ist zu bemerken, dass die Regierung der Polizei eine hohe Präsenz zu steht. Die meisten Menschen begrüßen dies außerordentlich. „Sicheres Reisen ist was Wert!“, heißt es, „Das ist toll!“. Für mich fühlt sich die hohe Präsenz in Santa Marta eher an, wie „Gefahr im Verzug“. Aber viele Touristen müssen eben auch viel bewacht werden. Oder eben auch: wo es viel zu holen gibt, gibt es auch viel zu stehlen… Ich habe jedenfalls noch an keinem Ort zuvor so viele Menschen des Nachts um die Häuser streunen sehen, um Essen in Müllsäcken zu suchen, den Strand zu durchwühlen oder Touristen zu bebetteln. Sogar wenn man nur einfach auf dem Balkon im zweiten Stockwerk über der Straße steht, wird man angesprochen. Angebettelt zu werden passiert hier so häufig, dass man richtig in Übung darin kommt, mit den Leuten auch ein Gespräch zu führen. Mir erscheinen sie alle wie ganz normale Menschen. Nur eben welche, die viel weniger besitzen. Heute hat mich ein Junge nach einem T-Shirt gefragt. Da ich gerade nur drei tragbare habe, hatte ich mir heute Morgen erst ein neues Viertes gekauft. Das war ganz einfach und ging ganz schnell. Muss ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben…?
Anstatt Schlager spielt man Vallenato und Cumbia-Rythmen, statt Konfetti und Papierschlangen in die Luft zu blasen, beschmiert man sich mit Mehl und Rasierschaum. Wenn auch auf ganz eigene Art, feiert man Karneval eben auch in Kolumbien. Als Hochburg der Narren ist die Küstenstadt Barranquilla berüchtigt. Klar, dass ich mir die karibische Fiesta nicht entgehen lassen durfte. Auch klar, das ein solches heimisches Gelage Gaunervolk anzieht. Doch wie schon so oft auf meiner Reise, war ein Schutzengel zur Stelle. In Barranquilla nannte er sich Andrés. Und nett wie er war, gesellte er sich bereits in Medellin zu mir. Kaum hatte ich in meinem Anschlussbus Platz genommen, grüßte es auch schon von rechts neben mir: „¡Hola!! Wer bist Du denn? Aha! Du fährst wohl auch zum Karneval?! Auch alleine?! So so! Das ist ja prima! ¡Me también!“. Nun, gegen kolumbianische Gesellschaft habe ich nie etwas einzuwenden und Andrés war mir vom ersten Moment an sympathisch. Nachdem die ersten grundlegenden Fragen geklärt waren, begann er sich auch schon für deutsche Musik zu begeistern. Über sein Interesse erfreut überließ ich ihm für die Nacht meinen Ipod. Dafür bedankte er sich gleich vier Mal , in dem er mich weckte, um mir immer wieder zu erklären, wie grandios auch er mein Lieblingsset von Paul Kalkbrenner fände… Nun, spätestens beim vierten Mal stand fest, dass wir die kommenden Tage zusammen verbringen würden. Meine nächtliche Geduld zahlte sich auch schon am Morgen aus. Wie erwartet, war es in Barranquilla zur Karnevalszeit schwer, ein günstiges Zimmer zu bekommen… außer man besaß den Charme und die Hartnäckigkeit André’s. In Windeseile hatte er die gesamte Taxiflotte vor dem Busterminal abgegrast… Nicht das es ihm dabei primär um eine schnelle, frische Dusche gegangen wäre – oh nein! Andrès hatte es nur eilig zur ersten Parade des Karnevals zu gelangen! Auf keinen Fall wollte er auch nur eine Sekunde verpassen. Bereits im Bus war mir aufgefallen, wie seine Augen beim Wort „Karneval“ geleuchtet hatten. Jetzt waren wir endlich vor Ort. Knappe zwei Minuten brauchte er zum Duschen und Sachen wechseln und schon stand er in der Tür: „¿Vamos?“. „¡Vamos!“, gab ich zurück und los ging es.
Für den ersten Tag stand die „Batalla de Flores“, die „Schlacht der Blumen“ auf dem Programm. Festwagen und ein Heer an Tänzern, verkleidet und geschmückt mit den Trieben eines königlichen Gartens rollten bzw. marschierten die Feststraße entlang. Am zweiten Tag erwartete uns die „Gran Parada de Tradiciòn“ und am Dritten die „Gran Parada de Fantasià“ – ein Farbenmeer aus Stoffen und Make-Up, phantasievolle Kreaturen, wie ich sie in solcher Fülle zuvor noch nie zu Gesicht bekommen habe. Dazwischen triumphierten rüsselhafte Figuren, welche man liebevoll Marimonda rief. Auch waren 3 Michael Jackson, 2 Hugo Chávez, 2 Fidel Castro, die FARC und das A-Team anwesend… J Jedoch unter allen Wesen das Schönste war die „Reina de Reinas“, die Königin der Königinnen; ihren Mann, Rey Momo, bekam ich leider nicht zu sehen.
Die Menge jubelte, tanzte und sang auf den Tribünen. Alle paar Momente besprühte man sich mit Rasierschaum oder bestäubte sich mit Mehl. Die Kolumbianer lieben ihren Karneval. Dabei ist es hier so heiß, dass einem das Bier im Nu in den Kopf steigt, um augenblicklich wieder als Schweiß von der Stirn zu tropfen. Zumindest am Tag. In der Nacht trinkt und tanzt es sich wesentlich angenehmer. Und gerade zum Karneval kostet man das hier aus. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden die Straßenkreuzungen von dreiköpfigen Ensembles (ausgerüstet mit Akkordeon oder Flöte, Trommel und Güira) beschallt. Bis zum Morgengrauen tanzten die Menschen, sangen und lachten, als ginge die Welt in wenigen Stunden unter. Und für mich wäre sie das auch fast. Nach drei Tagen war ich so geschafft, dass ich nicht mal den kleinen Finger hätte mehr heben können. Selbst das Schlucken von Wasser fiel mir schwer. Andrés ging es ähnlich. Uns war, als hätten wir mit jedem Mädchen der Stadt zumindest einmal das Tanzbein geschwungen – zumindest jeder mit jedem zweiten Mädchen einmal. Pausenlos wurden wir zum Tanz aufgefordert. Waren wir den Armen – in SA tanzt man eng umschlungen, Hüfte an Hüfte, Schenkel an Schenkel – der einen entkommen, stand auch schon die nächste Dame fordernd vor uns. Und als wir auch noch beide einen Tanz mit der Travestie-Königin des Karnevals königlich gemeistert hatten, wussten wir, die Zeit zu Verschwinden war gekommen… dieser Höhepunkt lies sich nicht mehr toppen – und unsere Batterien sich nicht in wenigen Stunden wieder laden. Wenn auch völlig kaputt, checkten wir mit lachenden Herzen und strahlenden Gesichtern aus und verließen die Stadt. Vergangen waren drei Tage, die wir wohl beide nie vergessen werden.
PS: Von der Aftershow gibt’s leider keine Fotos. Bei solchen Gelagen lasse ich meine Kamera grundsätzlich im Hotel… Im Allgemeinen beschert mir meine Kamera oft graue Haare. Für Aufnahmen wie diesmal, beim Fasching, ist sie einfach nicht schnell genug. Die meisten meiner Aufnahmen sind leider verwackelt…