Ich lese Altmanns „Reise durch einen einsamen Kontinent – Unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile“. Anstrengend. Nicht der Kontinent ist einsam, sondern Altmann. Er spricht Leute an, hört ihnen zu, schreibt auf. Doch er ist so Snob. Und seine Geschichten sind nicht gut. Währen sie es, bräuchte er nicht zu kommentieren. Er ärgert mich. Ich klappe das Buch zu. Baumkronen ziehen an meiner Schiffsluke vorbei. Ich will das ganze Panorama sehen. Also klettere ich aus meiner Hängematte, spaziere über das Schiff. Dabei muss ich den Kopf einziehen. Schnüre verweben den Flur, wie Spinnenfäden. Gut 100 Reisende teilen sich mit mir das Deck. Ihre schwebenden Betten schaukeln im Einklang. Bremst der Kutter, stoßen sie aneinander. Darunter krabbeln Kinder, verstecken sich. An einem Tisch spielen Männer Karten. Andere schauen über Schultern, ihnen dabei zu.
Im Zickzack kreuzt der Dampfer über den Fluss. Passagiere lehnen an der Reling. Sie finden das lustig. Der Kapitän sei neu, heißt es. Eine echte Kreuzfahrt eben. Vier Nächte, fünf Tage. In die 10 Euro pro Tag für das Ticket sind die Mahlzeiten mit eingerechnet. Die Fahrt lässt sich genießen. Keiner der sich oder andere unterhalten muss. Keiner, außer mir, ist hier im Urlaub. Wer mitfährt atmet durch. Für die meisten stand Arbeit an. Oder sie steht noch bevor. Man ist auf dem Weg in den Dschungel, um Bäume auszureißen, nach Erdgas zu suchen oder um Stromleitungen zu spannen. In der Küche werden Hühnchen gerupft. Bald steht eine Schlange an, bewaffnet mit Napf und Löffel. Reis und rote Bohnen wird es geben, das ganze zur Ausnahme mal nicht gewürzt mit dem Aroma von Fischgräten. Um die Ecke lehnt einer in einer Toilettentür. Ohne hinein zu treten erledigt er sein Geschäft von außen.
Unter Deck lagern Orangen, Plastikeimer und ein Laster. Oben sind Plastikrohre und Blumenkästen verstaut. Auf dem Gang begegne ich Otto. Ein zweites Bleichgesicht auf diesem Dampfer? Das macht mich neugierig. Eigentlich stammt er aus Prag, erzählt er mir. Aber vor langer Zeit verliebte er sich in die Arbeiten des berühmten Amazonaskünstlers Pablo Amaringo. Vor 15 Jahren zog es ihn in die Nähe des Meisters. Seit dem lebt er in Pucallpa, trinkt Ayahuasca und malt. Seine Bilder wandern oft in das Haus eines jungen Tschechen. Der 27-jährige macht Millionen mit Anlagegeschäften und noch wichtiger: er schätzt Ottos Kunst. Eine Symbiose von der viele Künstler träumen. Dennoch ist nicht alles in Ottos Leben erträumenswert. An der Universität von Pucallpa, an der auch Otto lehrt, streiken gerade linksradikale Studenten. Als Mitglieder des Stammes der Aguaruna fühlen sie sich von der „Mestizenpolitik“ aus Lima ausgeschlossen. Durch ihren Streik wollen sie die Einsetzung von Stammesvertretern in die höheren Ämter der Uni bewirken. Die „Revolution“ werde sogar von Hugo Chavez unterstützt. „Aber eigentlich geht es nur ums Geld, das diese Leute mit den gut bezahlten Jobs verdienen wollen.“, meint Otto. Als die Aguarunastudenten (1) gegen den Direktor der Uni handgreiflich wurden, bekam Otto Urlaub. Jetzt besucht er seine Freundin. Sein Sohn begleitet ihn, eins von drei Kindern mit seiner peruanischen Ex-Frau. Ein interessantes Thema. „Die Amazonen vereinen die teuflischsten Eigenschaften in ausgeprägtester Form“, verrät Otto mir. Sie seien paranoid Eifersüchtig, aber auch die schönsten und leidenschaftlichsten Frauen auf der Welt. Otto beginnt nervös zu Zwinkern, er macht sich Gedanken. Unser Kahn hat schonen einen ganzen Tag Verspätung. Aber auch wenn das für Peru normal ist, wird sie glauben, er habe sie auf dem Weg zu ihr betrogen.
Der Schiffsmotor heult laut auf, unterbricht unser Gespräch. Der Kutter ächzt, quietscht und schreit, als wollte man ihn amputieren. Dabei versucht der Kapitän nur am Ufer zu parken. Aber vom Steuerrad bis zur Schraube hat sein Kommando einen langen Weg. Jede beteiligte Achse und jeder Winkel, gibt dies kund. Geduldig bewundert die versammelte Dorfgemeinschaft das Manöver. Sonnenstrahlen blenden über strohgedeckte Hütten. Doch irgendwann ist es soweit und Bierkisten, Softdrinks, Baumaterialien und eine Rikscha krabbeln von Bord. Im Gegenzug füllt sich der Lagerraum mit Kisten voller Fisch. „An jedem Dorf müssen wir anlegen“, grummelt Otto. „Aber dafür ist es eine wunderbare Reise!“, versuche ich ihn aufzubauen, „Sieh doch! Dieser unendliche, unberührte Dschungel!“. „Da ist nichts mehr unberührt“, entgegnet Otto verdrossen. „Alles was sie da raus holen können, haben sie schon geholt. Weit und breit gibt es kein Mahagoni mehr (2). Das Leben im Dschungel ist hart. Auch diese Leute haben Angst vor Schlangen und Spinnen. Deshalb brennen sie alles nieder, schlagen alles tot. Sie sind arm, wer kann es ihnen verdenken. Wir Europäer fahren mit ihnen auf einer Autobahn, eben nur in entgegengesetzter Richtung. Wir sind romantisch verklärt und wollen zurück zur Natur. Sie wollen am Luxus der Neuzeit partizipieren. Und um das zu erreichen, nutzen sie den Wald, denn der gehört ihnen. Der Amazonas sei die Lunge der Welt? Das kann man ihnen nicht erklären.“
Langsam beginnt mich das Gespräch mit Otto zu deprimieren. Gern würde ich zu meiner naiven Vorstellung zurückkehren. Ich verabschiede mich höflich, erklimme eine Leiter, klettere aufs Dach, lege mich auf den Rücken. Der Himmel ist jetzt verhangen, kein Sonnenschein blendet mehr. Dafür bilden sich Gesichter, wenn ich blinzele. Freunde, Verwandte, Kollegen. Ich vermisse sie, fast alle. Sie sprechen zu mir, Sätze, die ich schon kenne. Letzte Begegnungen, Grüße, Wünsche. Manche habe ich per Mail erhalten. Dann meine Eltern. Sie sind gesund, laufen um die Wette. Mein Bruder, fleißig. Der unendliche Himmel über mir lässt Raum zum Denken. Nach einer Weile drehe ich den Kopf zur Seite, erblicke das saftige Grün des Dschungels. Langsam schiebt es sich vorbei, ein endloses Band, weit weg von zu Hause. Ich schiebe meinen Kopf wieder in die Wolken. Auch auf einem Fluss kann man sein Glück finden, wer hätte das gedacht? Ich schließe meine Augen und versuche an nichts zu denken. Schwer. Altmann lässt mir keine Ruhe. Ich stehe auf, will das Genie entdecken, dass 2008 den Reisebuch-Preis bekommen hat. Ich klettere nach unten. Und finde es. Altmann ist ein Held.
(1) 2009 machten die Aguaruna in Bagua/ Peru auf sich aufmerksam. Bei einem Streit um die Nutzung des Amazonasgebietes in der Region ermordeten sie 24 Polizisten. Dabei waren die Gesetzeshüter ohne Waffen angetreten, um zu Verhandeln.
(2) Mahagonibäume sind groß, sie zu fällen dauert lange und ihr Transport zum Flussufer ist kompliziert. Dennoch zahlt der fahrende Zwischenhändler, der die Stämme von den Familien entgegen nimmt, nur 2,5 US Dollar pro Baum. Den eigentlichen Gewinn machen auch hier, wie an vielen Orten, andere.
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